Schraeglage
Jennifer Bork, Dear Fear, 2015 (GER)
“Jede Erscheinung kann auf zwei Arten erlebt werden. Diese zwei Arten sind nicht willkürlich, sondern mit den Erscheinungen verbunden – sie werden aus der Natur der Erscheinungen herausgeleitet, aus zwei Eigenschaften derselben: Äußeres und Inneres.“
Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zur Fläche, 1926
Die Eigenschaften des Materials Stahl in Lisa Seebachs Skulpturen erscheinen seltsam transformiert, gar entmaterialisiert. Die eigentlich unmöglich erscheinenden Multi-Perspektiven, die ihre Arbeiten entwerfen, entmaterialisieren auch die Räume in denen sie sich befinden, äußeres und inneres scheinen sich immer wieder zu verkehren, der Raum wird verzerrt. Diese Verzerrung erzeugt in Lisa Seebachs Arbeiten sowohl ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit als auch eine Spannung. Was wir der materiellen Dingwelt zuordnen würden, der Re(s)-alität, wird als Konstruktion erkennbar, die unzuverlässig und fehlbar ist, die versagen kann. Ähnliches geschieht im Traum, wo das Irritierende oft als das von allen Regeln Emanzipierte in Erscheinung tritt aber auch als das Unheimliche, das Instabile. Im Traum existieren keine Gesetze des Materials, der Logik, des Raums oder der Zeit. Die Dinge verlieren ihre Grenze, ihren Rahmen. Da wo das Unterbewusstsein regiert gibt es keinen Definitionszwang. Im Traum existiert kein Entweder-oder, sondern nur noch ein Sowohl-als-auch.
Die Frage nach dem Wesen der Dinge erscheint in Lisa Seebachs Arbeiten in eben dieser Dualität. Immer wieder setzt Lisa Seebach einen an die Realität gebundenen Rahmen und enttäuscht die daraus resultierende Erwartungshaltung. Sie erzeugt eine Schräglage zwischen dem Bekannten und der künstlerischen Entfremdung. Dies geschieht sehr divers, auf mehreren Ebenen. So vertauscht die Künstlerin den medialen Bezugsrahmen wenn sie ihre Bildhauerei aus der Abstraktion und Freiheit der Handzeichnung entwickelt und diese transformiert. Ohne Mühe kann man die Ursprünge der von den Alltagserscheinungen inspirierten Formenfindungen ausmachen und auch die Titel sind stets sehr konkret. Diese stimmen zwar nicht immer mit dem auszumachenden Gegenstand überein, lassen aber oft Rückschlüsse auf die Arbeitsweise der Künstlerin zu: In Fluchttunnel erkennt man sofort eine Trittleiter, und einen angedeuteten Schacht, in Nachdenken über die Statik sieht man deutlich einen Schreibtisch und eine Waage, Handlauf beschreibt die Form einer Feuerstelle, eines Ofens. Doch Lisa Seebach zeigt eher die bildhauerische Form einer in den dreidimensionalen Raum übertragenen Zeichnung eines Schreibtisches als den Schreibtisch selbst.
Die Künstlerin macht ihren inneren Eindruck der Dingwelt zum äußeren Ausdruck einer allgemeinen Erscheinung und erweitert damit die Möglichkeiten der räumlichen Parameter.
Sie verkehrt oben und unten, innen und außen oder bringt die Linien und Flächen in immer wieder neuen Konstellationen und Winkeln zusammen. So verändert sie auch den Raum in dem wir uns als Betrachter befinden. Ein Beispiel hierfür ist ihr Handlauf: Die ofenartige Wölbung beschreibt nur die äußere Konturlinie, der Körper ist als Gegenform invertiert im Raum vorhanden. Was wie Feuerholz in Kombination mit der ofenförmigen Stahlkontur wirkt, wird durch den Titel Handlauf in einen anderen Kontext eingebunden. Über diese, von der Künstlerin gelegte Spur ändert sich unsere Wahrnehmung und wir meinen in den, auf dem Boden verstreuten, keramischen Elementen Geländerstangen zu erkennen. Doch dies impliziert die Ofen-Form nun als zusammengeraffte Linie, die wir im Kopf begradigen und mit den Stangen zusammenbringen möchten: ein dekonstruiertes Geländer entsteht. Die Formen geraten in Bewegung und verweigern sich dabei einer eindeutigen Festlegung. Auch der Fluchttunnel wirft Fragen auf: Befinden wir uns inner-, unter- oder oberhalb des angedeuteten Schachts? Lisa Seebach thematisiert nicht das Ereignis oder das Objekt selbst, sondern die Perspektive und damit die Dynamik des uns umgebenden Raumes. In der vom Körper des Betrachters losgelösten Fläche der Zeichnung geschieht dies durch schnelle Bewegungen des Blattes, im Raum und mit dem Betrachter als Bezugsgröße ist die Bewegung sehr stark verlangsamt und findet nur im Inneren statt.
Die in Lisa Seebachs Arbeiten vorgestellte Dingwelt erscheint durch die Bewegung zwar belebt, überlebensfähig ist sie jedoch nicht: Wacklig, hinkend, klapprig erscheinen die Skulpturen eher wie eine Parade des möglichen Scheiterns.
Es sind diese fortlaufenden Verschiebungen, es ist die Schräglage des Bezugsrahmens, die eine Irritation erzeugen, sowohl im Objekt selbst, als auch im Außenraum. Ergibt sich hier ein Bruch? Geht man einmal vom etymologischen Ursprung des Wortes Scheitern als „in Stücke gehen“ oder „in Trümmer zerfallen“[1] aus, wäre es genau dieser Bruch, der Moment nach dem Fall, der das Scheitern definieren würde. Doch in den Arbeiten von Lisa Seebach wird der Moment davor relevant: Die einzelnen Elemente der Skulpturen, ihre Linien und Flächen, tarieren sich immer wieder aus und ermöglichen so das größtmögliche Spannungspotenzial. „Je mehr sich die Schräge der Horizontalen nähert, desto mehr hat man den Eindruck einer Hebung, je mehr sie sich der Vertikalen nähert, desto mehr hat man den Eindruck des Fallens.”(…)” Die Schräge von links unten nach rechts oben gerichtet gibt den Eindruck einer “Steigung”, umgekehrt von links oben nach rechts unten, den einer “Abfahrt”[2], beschreibt der Schweizer Grafiker und Theoretiker Adrian Frutiger die Wirkungsweise widerstreitender Linien. Dieses Prinzip kommt in Lisa Seebachs Arbeiten immer wieder zum Tragen.
Doch die Gewichtsverteilungen gleichen sich nie aus, stattdessen scheint die Künstlerin die Möglichkeiten stets bis kurz vor den Kippmoment auszureizen. Diese Anstrengung des Balance-Haltens wird in den meisten ihrer Arbeiten greifbar, ihre scheinbare Instabilität bewusst erzeugt:
Mansarde beschreibt eine Stahlkontur, vielleicht ein Fenster, welche den ähnlich geformten, stählernen Raumplastiken von Norbert Kricke aus den 1970er Jahren ähnelt, die ebenfalls mit der Verkehrung von Innen- und Außenraum spielen. Doch wo Kricke Offenheit, Freiheit und Schwerelosigkeit evozierte, beschwert Lisa Seebach ihre geschlossene Konstruktion mit horizontal angeordneten Keramikstücken, deren Formen und Farben baulichen Gegebenheiten des Ausstellungsraums entlehnt sind. Sie erzeugt damit nicht nur eine Ortsgebundenheit und Erdung, sondern ermöglicht erst die Vorstellung, der Stahlrahmen könne stürzen und trotz seiner Materialität gegebenenfalls zerbersten. Das Scheitern im Sinne eines bereits vollzogenen Bruchs wird in ihren Arbeiten nur angedeutet – die erzeugte Spannung wird gehalten.
Besonders interessant wird dieser angedeutete Bruch, wenn er, wie in einigen von Lisa Seebachs Arbeiten auf ein weiteres Bezugssystem trifft: den Perfektionsanspruch der industriellen Produktion. „Das Scheitern ist das große moderne Tabu“, beschrieb der Soziologe Richard Sennett Ende der 90er Jahre, die Angst des Industriekapitalismus vor der Unproduktivität. Bei Lisa Seebach gibt es diverse Hinweise auf Formen und Material aus der Industrie: Strommasten, Antennen, Stahl, schwarzer Schutzlack sind hierfür einige Beispiele. Doch bei Lisa Seebach ist nichts reproduzierbar, ihre Arbeiten sind nur inspiriert von der Formenwelt der Industrie, transformiert durch den „Umweg“ über die Zeichnung erhalten die Formen etwas eigenständiges, werden zu einer ganz persönlichen Industrie der Künstlerin. So wird bei die Fabrik die eigentliche Produktionsstätte ganz zum in-sich-geschlossenen System, zur selbstreferenziellen Skulptur, die Formen produziert. Hier kann man am ehesten eine Nähe zu den Konstruktivsten ausmachen, welche die Verbindung zwischen Industriearchitektur einerseits und der zeichnerischen Linie andererseits ebenfalls für ihre Arbeiten nutzten: „Die Verbindungen und Schrauben sind in diesen Linienkonstruktionen Punkte. Dies sind Linie-Punkt-Konstruktionen nicht auf der Fläche, sondern im Raum“[3] schreibt Kandinsky unter eine Fotografie eines von unten gesehenen Funkturms von Laszlo Moholy-Nagy. Doch wo im konstruktiven Ingenieurbau die genau bemessenen und errechneten Linien einen exakt definierten Winkel bilden, arbeitet Lisa Seebach mit der Schräge: Vertikale und Horizontale kommen nicht rechtwinklig zusammen, die durchgängige Schräglage bringt die Arbeiten ins Rutschen. Durch ihre klar erkennbare Referenz zur Handzeichnung widersetzen sie sich mit ihren zittrigen Linien und den ebenfalls von der menschlichen Hand gekennzeichneten Oberflächen der keramischen Volumina jeglichem Anschein selbst industriell gefertigt worden zu sein. Sie sind von Imperfektion gekennzeichnet, im Sinne eines Statikers, der mit Imperfektion die Krümmung oder Schrägstellung einer Stütze bezeichnet.
Es ist die Schräglage durch die Lisa Seebachs Arbeiten eine eigenständige Atmosphäre kreieren, die den ganzen Raum bestimmt. Zwischen den verschobenen Formen, Flächen und krakeligen Linien entsteht eine kraftvolle Spannung, die zwei Pole miteinander verbindet: die geistige Aufladung der abstrakten Avantgarde und die konstruktiv-konkrete ästhetische Durchdringung der Alltagswelt. Doch dafür benötigen die Arbeiten einen Abstand, niemals stehen sie dicht gedrängt, erst über den Freiraum zwischen ihnen entsteht ihr Beziehungsgeflecht. Verbunden sind sie über ihren Entstehungsprozess, der ihnen etwas Wesenhaftes, etwas Lebendiges verleiht. In der regellosen Welt der freien, gezeichnete Linie gelingt, was eigentlich unmöglich ist: Die Objekte werden von ihrer Eindeutigkeit befreit. Der Dualismus der Dinge wird aufgehoben. Traum und Zeichnung treffen sich in diesem Punkt.
1 Vgl.: Dr. Wolfgang Pfeifer, Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache: „mhd. schīter, nhd. Scheiter, zu dem das Verb scheitern ‘zugrunde gehen, erfolglos sein’, eigentl. ‘in Stücke gehen’ (17. Jh.), zuvor zu-, zerscheitern (16. Jh.), gebildet wird, wohl aus Wendungen wie zu Scheitern gehen ‘in Trümmer auseinanderbrechen’ (16. Jh.), bes. vom Schiffbruch (17. Jh.).“, Quelle: http://www.dwds.de/?qu=scheitern, Stand: 22.11.15, 10 Uhr
2 Vgl.: Adrian Frutiger: „Der Mensch und seine Zeichen“, Wiesbaden, 1989, S. 26.
3 Vgl.: Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zur Fläche, Bern, erstmals erschienen 1926, 10. überarbeitete Auflage 1955, S. 113.
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Schraeglage
Jennifer Bork, Dear Fear, 2015 (GER)
“Jede Erscheinung kann auf zwei Arten erlebt werden. Diese zwei Arten sind nicht willkürlich, sondern mit den Erscheinungen verbunden – sie werden aus der Natur der Erscheinungen herausgeleitet, aus zwei Eigenschaften derselben: Äußeres und Inneres.“
Wassily Kandinsky
Punkt und Linie zur Fläche, 1926
Die Eigenschaften des Materials Stahl in Lisa Seebachs Skulpturen erscheinen seltsam transformiert, gar entmaterialisiert. Die eigentlich unmöglich erscheinenden Multi-Perspektiven, die ihre Arbeiten entwerfen, entmaterialisieren auch die Räume in denen sie sich befinden, äußeres und inneres scheinen sich immer wieder zu verkehren, der Raum wird verzerrt. Diese Verzerrung erzeugt in Lisa Seebachs Arbeiten sowohl ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit als auch eine Spannung. Was wir der materiellen Dingwelt zuordnen würden, der Re(s)-alität, wird als Konstruktion erkennbar, die unzuverlässig und fehlbar ist, die versagen kann. Ähnliches geschieht im Traum, wo das Irritierende oft als das von allen Regeln Emanzipierte in Erscheinung tritt aber auch als das Unheimliche, das Instabile. Im Traum existieren keine Gesetze des Materials, der Logik, des Raums oder der Zeit. Die Dinge verlieren ihre Grenze, ihren Rahmen. Da wo das Unterbewusstsein regiert gibt es keinen Definitionszwang. Im Traum existiert kein Entweder-oder, sondern nur noch ein Sowohl-als-auch.
Die Frage nach dem Wesen der Dinge erscheint in Lisa Seebachs Arbeiten in eben dieser Dualität. Immer wieder setzt Lisa Seebach einen an die Realität gebundenen Rahmen und enttäuscht die daraus resultierende Erwartungshaltung. Sie erzeugt eine Schräglage zwischen dem Bekannten und der künstlerischen Entfremdung. Dies geschieht sehr divers, auf mehreren Ebenen. So vertauscht die Künstlerin den medialen Bezugsrahmen wenn sie ihre Bildhauerei aus der Abstraktion und Freiheit der Handzeichnung entwickelt und diese transformiert. Ohne Mühe kann man die Ursprünge der von den Alltagserscheinungen inspirierten Formenfindungen ausmachen und auch die Titel sind stets sehr konkret. Diese stimmen zwar nicht immer mit dem auszumachenden Gegenstand überein, lassen aber oft Rückschlüsse auf die Arbeitsweise der Künstlerin zu: In Fluchttunnel erkennt man sofort eine Trittleiter, und einen angedeuteten Schacht, in Nachdenken über die Statik sieht man deutlich einen Schreibtisch und eine Waage, Handlauf beschreibt die Form einer Feuerstelle, eines Ofens. Doch Lisa Seebach zeigt eher die bildhauerische Form einer in den dreidimensionalen Raum übertragenen Zeichnung eines Schreibtisches als den Schreibtisch selbst.
Die Künstlerin macht ihren inneren Eindruck der Dingwelt zum äußeren Ausdruck einer allgemeinen Erscheinung und erweitert damit die Möglichkeiten der räumlichen Parameter.
Sie verkehrt oben und unten, innen und außen oder bringt die Linien und Flächen in immer wieder neuen Konstellationen und Winkeln zusammen. So verändert sie auch den Raum in dem wir uns als Betrachter befinden. Ein Beispiel hierfür ist ihr Handlauf: Die ofenartige Wölbung beschreibt nur die äußere Konturlinie, der Körper ist als Gegenform invertiert im Raum vorhanden. Was wie Feuerholz in Kombination mit der ofenförmigen Stahlkontur wirkt, wird durch den Titel Handlauf in einen anderen Kontext eingebunden. Über diese, von der Künstlerin gelegte Spur ändert sich unsere Wahrnehmung und wir meinen in den, auf dem Boden verstreuten, keramischen Elementen Geländerstangen zu erkennen. Doch dies impliziert die Ofen-Form nun als zusammengeraffte Linie, die wir im Kopf begradigen und mit den Stangen zusammenbringen möchten: ein dekonstruiertes Geländer entsteht. Die Formen geraten in Bewegung und verweigern sich dabei einer eindeutigen Festlegung. Auch der Fluchttunnel wirft Fragen auf: Befinden wir uns inner-, unter- oder oberhalb des angedeuteten Schachts? Lisa Seebach thematisiert nicht das Ereignis oder das Objekt selbst, sondern die Perspektive und damit die Dynamik des uns umgebenden Raumes. In der vom Körper des Betrachters losgelösten Fläche der Zeichnung geschieht dies durch schnelle Bewegungen des Blattes, im Raum und mit dem Betrachter als Bezugsgröße ist die Bewegung sehr stark verlangsamt und findet nur im Inneren statt.
Die in Lisa Seebachs Arbeiten vorgestellte Dingwelt erscheint durch die Bewegung zwar belebt, überlebensfähig ist sie jedoch nicht: Wacklig, hinkend, klapprig erscheinen die Skulpturen eher wie eine Parade des möglichen Scheiterns.
Es sind diese fortlaufenden Verschiebungen, es ist die Schräglage des Bezugsrahmens, die eine Irritation erzeugen, sowohl im Objekt selbst, als auch im Außenraum. Ergibt sich hier ein Bruch? Geht man einmal vom etymologischen Ursprung des Wortes Scheitern als „in Stücke gehen“ oder „in Trümmer zerfallen“[1] aus, wäre es genau dieser Bruch, der Moment nach dem Fall, der das Scheitern definieren würde. Doch in den Arbeiten von Lisa Seebach wird der Moment davor relevant: Die einzelnen Elemente der Skulpturen, ihre Linien und Flächen, tarieren sich immer wieder aus und ermöglichen so das größtmögliche Spannungspotenzial. „Je mehr sich die Schräge der Horizontalen nähert, desto mehr hat man den Eindruck einer Hebung, je mehr sie sich der Vertikalen nähert, desto mehr hat man den Eindruck des Fallens.”(…)” Die Schräge von links unten nach rechts oben gerichtet gibt den Eindruck einer “Steigung”, umgekehrt von links oben nach rechts unten, den einer “Abfahrt”[2], beschreibt der Schweizer Grafiker und Theoretiker Adrian Frutiger die Wirkungsweise widerstreitender Linien. Dieses Prinzip kommt in Lisa Seebachs Arbeiten immer wieder zum Tragen.
Doch die Gewichtsverteilungen gleichen sich nie aus, stattdessen scheint die Künstlerin die Möglichkeiten stets bis kurz vor den Kippmoment auszureizen. Diese Anstrengung des Balance-Haltens wird in den meisten ihrer Arbeiten greifbar, ihre scheinbare Instabilität bewusst erzeugt:
Mansarde beschreibt eine Stahlkontur, vielleicht ein Fenster, welche den ähnlich geformten, stählernen Raumplastiken von Norbert Kricke aus den 1970er Jahren ähnelt, die ebenfalls mit der Verkehrung von Innen- und Außenraum spielen. Doch wo Kricke Offenheit, Freiheit und Schwerelosigkeit evozierte, beschwert Lisa Seebach ihre geschlossene Konstruktion mit horizontal angeordneten Keramikstücken, deren Formen und Farben baulichen Gegebenheiten des Ausstellungsraums entlehnt sind. Sie erzeugt damit nicht nur eine Ortsgebundenheit und Erdung, sondern ermöglicht erst die Vorstellung, der Stahlrahmen könne stürzen und trotz seiner Materialität gegebenenfalls zerbersten. Das Scheitern im Sinne eines bereits vollzogenen Bruchs wird in ihren Arbeiten nur angedeutet – die erzeugte Spannung wird gehalten.
Besonders interessant wird dieser angedeutete Bruch, wenn er, wie in einigen von Lisa Seebachs Arbeiten auf ein weiteres Bezugssystem trifft: den Perfektionsanspruch der industriellen Produktion. „Das Scheitern ist das große moderne Tabu“, beschrieb der Soziologe Richard Sennett Ende der 90er Jahre, die Angst des Industriekapitalismus vor der Unproduktivität. Bei Lisa Seebach gibt es diverse Hinweise auf Formen und Material aus der Industrie: Strommasten, Antennen, Stahl, schwarzer Schutzlack sind hierfür einige Beispiele. Doch bei Lisa Seebach ist nichts reproduzierbar, ihre Arbeiten sind nur inspiriert von der Formenwelt der Industrie, transformiert durch den „Umweg“ über die Zeichnung erhalten die Formen etwas eigenständiges, werden zu einer ganz persönlichen Industrie der Künstlerin. So wird bei die Fabrik die eigentliche Produktionsstätte ganz zum in-sich-geschlossenen System, zur selbstreferenziellen Skulptur, die Formen produziert. Hier kann man am ehesten eine Nähe zu den Konstruktivsten ausmachen, welche die Verbindung zwischen Industriearchitektur einerseits und der zeichnerischen Linie andererseits ebenfalls für ihre Arbeiten nutzten: „Die Verbindungen und Schrauben sind in diesen Linienkonstruktionen Punkte. Dies sind Linie-Punkt-Konstruktionen nicht auf der Fläche, sondern im Raum“[3] schreibt Kandinsky unter eine Fotografie eines von unten gesehenen Funkturms von Laszlo Moholy-Nagy. Doch wo im konstruktiven Ingenieurbau die genau bemessenen und errechneten Linien einen exakt definierten Winkel bilden, arbeitet Lisa Seebach mit der Schräge: Vertikale und Horizontale kommen nicht rechtwinklig zusammen, die durchgängige Schräglage bringt die Arbeiten ins Rutschen. Durch ihre klar erkennbare Referenz zur Handzeichnung widersetzen sie sich mit ihren zittrigen Linien und den ebenfalls von der menschlichen Hand gekennzeichneten Oberflächen der keramischen Volumina jeglichem Anschein selbst industriell gefertigt worden zu sein. Sie sind von Imperfektion gekennzeichnet, im Sinne eines Statikers, der mit Imperfektion die Krümmung oder Schrägstellung einer Stütze bezeichnet.
Es ist die Schräglage durch die Lisa Seebachs Arbeiten eine eigenständige Atmosphäre kreieren, die den ganzen Raum bestimmt. Zwischen den verschobenen Formen, Flächen und krakeligen Linien entsteht eine kraftvolle Spannung, die zwei Pole miteinander verbindet: die geistige Aufladung der abstrakten Avantgarde und die konstruktiv-konkrete ästhetische Durchdringung der Alltagswelt. Doch dafür benötigen die Arbeiten einen Abstand, niemals stehen sie dicht gedrängt, erst über den Freiraum zwischen ihnen entsteht ihr Beziehungsgeflecht. Verbunden sind sie über ihren Entstehungsprozess, der ihnen etwas Wesenhaftes, etwas Lebendiges verleiht. In der regellosen Welt der freien, gezeichnete Linie gelingt, was eigentlich unmöglich ist: Die Objekte werden von ihrer Eindeutigkeit befreit. Der Dualismus der Dinge wird aufgehoben. Traum und Zeichnung treffen sich in diesem Punkt.
1 Vgl.: Dr. Wolfgang Pfeifer, Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache: „mhd. schīter, nhd. Scheiter, zu dem das Verb scheitern ‘zugrunde gehen, erfolglos sein’, eigentl. ‘in Stücke gehen’ (17. Jh.), zuvor zu-, zerscheitern (16. Jh.), gebildet wird, wohl aus Wendungen wie zu Scheitern gehen ‘in Trümmer auseinanderbrechen’ (16. Jh.), bes. vom Schiffbruch (17. Jh.).“, Quelle: http://www.dwds.de/?qu=scheitern, Stand: 22.11.15, 10 Uhr
2 Vgl.: Adrian Frutiger: „Der Mensch und seine Zeichen“, Wiesbaden, 1989, S. 26.
3 Vgl.: Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zur Fläche, Bern, erstmals erschienen 1926, 10. überarbeitete Auflage 1955, S. 113.
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